Ein anderes erkennbares Indiz dafür, dass Pogacar nicht im Vollbesitz seiner Kräfte gewesen ist, waren die auffälligen Mundwinkelrhagaden kombiniert mit Herpes labialis [5], ein deutlicher Hinweis auf eine Immundepression bzw. Infektionsbelastung. Der Sturz zu Beginn der 17. Etappe, dessen unkonzentrierter Verlauf durch Aufhängen am Hinterrad des Vordermannes typisch für einen angeschlagenen Rennfahrer ist, hat Pogacar den Rest gegeben. Die sichtbar blutenden Exkoriationen und damit verbundenen knöchernen Kontusionstraumen an Ellenbogen und Knie, waren dann einfach zu viel Belastung für den geschundenen Körper auf einer Etappe mit mehr als 5000hm in der dritten Tourwoche. An dieser Stelle machte sich nachträglich ein weiteres Defizit in Pogacars Trainingsplanung bemerkbar. Wohlmöglich war die Jahresgesamtbelastung für Pogacars Organismus einfach zu hoch und die Erholungsphasen nicht ausreichend. Während Vingegaard sich über kleinere Rundfahrten (O Gran Camino, Paris Nizza, Baskenlandrundfahrt, Critérium du Dauphiné) und Höhentrainingslager (Teneriffa) trainingsmethodisch systematisch auf die TdF vorbereitet hat [4a], kostete Pogacar die kräftezehrende Klassikersaison u.U. jene Substanz, die ihm dann später fehlte. Ganz abgesehen davon, dass der Heilungsprozess seiner Fraktur ohnehin die regenerativen Kapazitäten zusätzlich belastet hat. Um den verletzungsbedingten Trainingsrückstand zu kompensieren, hat Pogacar u.U. mit der Brechstange in einer sehr anspruchsvollen Hypoxiekette (Höhentrainingslager in der Sierra Nevada und Sestriere) eine weitere Überlastung riskiert [4], die ihm in der entscheidenden dritten Tourwoche die nötigen Reserven kosteten. Zudem haben Pogacars ständige Attacken in den ersten beiden Tourwochen jene Körner verbraucht, die am Ende fehlten. Das erinnert an den Giro 2018, bei dem ein unbändig attackierender Simon Yates seinem Übermut letztlich auch bitter Tribut zahlen musste [6]. Jumbo-Visma hat sehr geschickt dieses Attackenfestival von Pogacar provoziert, weil sie sein leistungsphysiologisches Profil genau analysiert haben und wussten wie sie ihn schlagen können.

Die Leistungsanalyse  Pogacars erklärt warum Jumbo Visma so oft wie möglich versuchte Pogacar aus seinem MaxLass/FATmax Bereich heraus zu fahren, damit am Ende einer Etappe bzw. in der dritten Tourwoche seine Kapazitäten reduziert sind und er seine Limits nicht mehr ausschöpfen kann [7]. Das haben sie bspw. perfekt am Col du Tourmalet oder Col de la Loze gemacht [8], indem sie wichtige Helfer als Sattelittenstationen in Tagesgruppen vorausschickten, auch wenn Pogacar dort noch profitierte, die eigentliche Rechnung bekam er dann in der letzten Tourwoche von Jumbo-Visma präsentiert. UAE hat natürlich versucht die Taktik von Jumbo-Visma zu neutralisieren und am Col de la Loze, mit den Sattelittenstationen Adam Yates und Rafael Majka in der Ausreißergruppe des Tages alles richtig gemacht, einzig Kapitän Pogacar konnte wegen seines Leistungseinbruches nicht an die Edeldomestiken andocken und von deren Hilfe gegen Vingegaard im Etappenfinale profitieren wie geplant.

Das Zeitfahren der 16. Etappe war eine fahrtechnische und taktische Meisterleistung Vingegaards, denen außergewöhnliche bzw. verdächtige, leistungsphysiologische Kennziffern zugrunde liegen müssen [9]. Die Zeitfahranalyse [10] bestätigt zudem den o.e. Verdacht der muskulären Probleme Pogacars. Die häufigeren Tretpausen von Pogacar vs. Vingegaard, v.a. bei den Highspeedabschnitten in denen Vingegaard immer noch getreten hat während Pogacar nur gerollt ist, könnten ursächlich mit den muskulären Beeinträchtigungen in der Leistengegend bei Pogacar erklärbar sein. Er hat einfach öfter versucht sich zu schonen, weil er möglicherweise auch dort schon Bewegungsschmerzen gespürt hat. In diesem Zusammenhang ist die Übersetzungsangabe bei Vingegaard hochinteressant. Bei Geschwindigkeiten um die 70km/h und der sichtbaren Tretfrequenz, bei der er offenkundig noch Druck und Vortrieb auf die Pedale gebracht hat, war Vingegaard mit einem noch größeren Übersetzungsverhältnis (ÜV) von 56×10 (5,6) im Vergleich zu Pogacars 58×11 (5,27) ausgestattet. Das war ganz klar bewusst gewählt, wenn man es mit den ÜVs der beiden im Zeitfahren der TdF 2022 vergleicht. Dort war Vingegaard in ähnlichen Passagen auch noch mit 58×11 unterwegs und hat dort mehr gerollt als getreten, ganz im Gegensatz zu 2023. Auch bei diesem Teilaspekt hat Jumbo-Visma die Hausaufgaben einfach besser gelöst als UAE.

TdF Zeitfahren Pogacar Vingegaard ÜV
Abb. 2 16. Etappe, eingeblendete Übersetzungsangaben an der Startrampe (in den gelben Kästchen jeweils u. links) [11]

Von Smirs1

Studium der Chemie u. Sportwissenschaft; 30 Jahre Berufserfahrung in der klinischen Forschung, Medizinproduktezulassung, Fitnessindustrie u. Betreuung von Weltklasseathleten; ehem. Diplomand am Institut f. Biochemie u. Dopinganlytik d. DSHS Köln; investigativer Journalist in Mainstream u. alternativen Medien mit zahlreichen fachspezifischen Publikationen; passionierter Radsportler, seit 40 Jahren im Rennsattel unterwegs; Erfinder und Patentinhaber

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