Nordisch kühler Stratege versus südländisches Impulsivtalent
Wie leistungsphysiologische Analysen und Teamtaktik den modernen Profiradsport entscheiden
Die diesjährige Tour de France (TdF) war an Spannung kaum zu überbieten, die beiden Stars der Szene, Vingegaard und Pogacar, lieferten sich lange Zeit ein Duell auf Augenhöhe. Dass einer der beiden dabei systematisch aufgerieben wurde, ohne sich dessen zunächst bewusst zu sein, offenbarten die 16. und 17. Etappe in einem dramatischen Debakel. Wenn man die Palmarès und leistungsphysiologischen Kenndaten der beiden Protagonisten miteinander vergleicht [6] [8], scheint Pogacar nominell der etwas talentierte Athlet zu sein. Vingegaard hingegen wird von einem extrem gut besetzten Team aus „Wasserträgern“ und externen Sportwissenschaftlern unterstützt, welches letztlich den feinen Unterschied über Sieg und Niederlage ausmacht. Die Weltklassedomestiken die Vingegaard im Wettkampf zur Seite stehen, wären in jeder durchschnittlichen Mannschaft selber Rundfahrt oder zu mindestens Road Kapitäne. Ob ein Dylan van Baarle, Christophe Laporte, Nathan van Hooydonck oder Tiesj Benoot als tempofeste Rouleurs, der Allrounder Wout van Aert, oder die Grimpeurs Sepp Kuss und Wilco Keldermann, das Potential dieser Truppe ihren Kapitän Vingegaard aus dem Wind zu halten oder entscheidende Attacken vorzubereiten bzw. ebensolche der Konkurrenz zu unterbinden, ist geradezu unerschöpflich. Dabei hatte auch Pogacars Team UAE mächtig aufgerüstet und mit Adam Yates, Rafal Majka, Marc Soler, Matteo Trentin, Vegard Stake Laengen, Mikkel Bjerg und Felix Großschartner eine starke Helferriege am Start. Der Einsatz der individuellen Stärken war jedoch erneut, wie schon 2022, bei Jumbo-Visma effizienter realisiert.
Die gesamte Tourvorberbereitung Pogacars war 2023 völlig verkorkst, sowohl psychisch als auch physisch. Die teaminternen Querelen um Pogacars Mentor Allan Peiper waren schon der erste Schlag im Frühjahr 2023, den der Slowene hinnehmen musste [1]. Das wäre vergleichbar gewesen wenn Vingegaard auf das Jumbo Visma Mastermind Grischa Niermann hätte verzichte müssen, übrigens auch ein einschlägig vorbelasteter Dopingsünder der jüngeren Radsportvergangenheit, die sich immer noch zahlreich in der aktuellen Radsportszene herumtreiben [2]. Mit dem Sturz Pogacars beim Weltcup Klassiker Lüttich-Bastogne-Lüttich, geriet dessen Tourplanung völlig aus dem Ruder. Einige Fundstücke zu seiner Rehabilitationsphase offenbaren fundamentale Fehler, die ihm letztendlich gegen Vingegaard und Jumbo-Visma erhebliche Nachteile verschafft haben. „Durch seinen frühen Einstieg in das Rollentraining bekam er durch eine Schonhaltung Probleme. «Ich musste etwas mehr mit Physiotherapeuten und Osteopathen arbeiten. Das habe ich noch nie gemacht», sagte der 24-Jährige.“ [3] Und weiter: „Pogacar habe fünf Wochen lang nicht auf der Strasse trainieren können. Zeitweise fuhr er nur auf der Rolle.“ [4]
Insidern zur Folge hat Pogacar in der Rekonvaleszenz nach seiner Os scaphoideum (Kahnbein) Fraktur, bedingt durch den Sturz bei der Doyenne (Lüttich-Bastogne-Lüttich), zur Entlastung des Handgelenkes viel auf dem Zeitfahrrad trainiert, statt in der üblichen Position seines Straßenrennrads. Das hat fatale Folgen in der Adaptation der Muskelarbeitsbereiche über den Tretzyklus. Im Vergleich zur Normalsitzposition werden in der vorgeneigten Zeitfahrhaltung die Glutaen aufgedehnt, weil Ursprung und Ansatz auseinandergezogen werden, aber vor allem die gesamte m. quadriceps Gruppe und die Hüftbeuger (m. iliopsoas) komprimiert, indem Muskelansatz und –ursprung näher zusammengeführt werden. Diese Muskelpartei neigt dann zur Verkürzung, was sich in der Normalposition wiederum extrem problematisch gestaltet. Die verkürzten Muskelgruppen sind dann bei Maximalbeanspruchung, in der aufrechteren Position, anfällig für Distensionen (Zerrungen) oder Mikrorupturen. Möglicherweise ist genau dies beim Zeitfahren passiert, als Pogacar vor dem finalen Anstieg des Zeitfahrkurses der 16. Etappe auf das Straßenrad gewechselt ist. Das würde auch erklären warum Pogacar, sichtbar durch sein aufgerissenes Trikot bei der Zieleinfahrt der 17. Etappe, an einer für einen Radprofi völlig ungewöhnlichen Stelle, der unteren Bauchpartie/Leistengegend, beidseitig getapet gewesen ist.