Und wenn man denkt, die Maximalkapazitäten wären damit erreicht, dann zünden die Veloturbos noch eine Raketenstufe. Auf der 20. Etappe, also am Ende einer dreiwöchigen Dauertortur über 3400km und 52000hm [6], übrigens nochmal 10000hm mehr ggü. der Giro Ausgabe 2024, packt der Veranstalter einen Monsterberg in das Finale, der mit einer Länge von 18,5km, einer durchschnittlichen Steigung von 9,2%, mit Rampen um die 14% und Schotterabschnitten im oberen Teil, den reinsten „Alptraum“ darstellt. An diesem Colle delle Finestre spielte sich bereits 2018 ein Drama ab, das durch die Neuauflage 2025 sogar noch in den Schatten gestellt wurde. Damals attackierte ein entfesselt fahrender Chris Froome in einem 80km Solo (ja, auch das gab es schon vor der Ära Pogacar), den Gesamtführenden Simon Yates, der an eben jenem Berg völlig einbrach und den Rundfahrtsieg an Froome abtreten musste. Yates wurde das Attackenfestival von 2018 zum Verhängnis, welches er auf zahlreichen Etappen zuvor zelebriert hatte, was Pogis 2024er Giro Show nebenbei bemerkt nochmal in seiner abartigen Dominanz umso unglaubwürdiger erscheinen lässt, da er nie Ermüdungserscheinungen, wie Yates 2018, gezeigt hat. Jeder normalveranlagte Mensch würde ob eines solchen Traumas von 2018 sicher direkt beim Etappenstart kapitulieren, was für eine außergewöhnliche mentale Stärke allerdings diese Ausnahmetalente besitzen, demonstriert Yates in unnachahmlicher Weise bei dem Spektakel auf dieser 20. Etappe 2025. Der Schicksalsgereifte Yates und ein strategisch brillant agierendes Visma Team bereiten der Konkurrenz von UAE (del Toro) und EF (Carapaz) ein Taktikdebakel vom Feinsten [7]. Was Yates außer seiner einmaligen Willenskraft, er benötigt schließlich vier eigene nervenaufreibende harte Attacken um von dem Duo del Toro/Carapaz wegzukommen, zudem auf die Pedale tritt, lässt den fachkundigen Beobachter mit ungläubigem Staunen zurück. Yates fährt den Finestre nochmal 5min schneller als Froome bei seinem Parforceritt 2018, leistet dabei ca. 6,1W/kg KG über eine Stunde, wohlgemerkt am Ende der dreiwöchigen Rundfahrt und in Höhenlagen bis zu über 2000m üNN! Konkurrent Gee liefert ähnliche einsehbare Leistungsdaten mit 408Watt im Durchschnitt bei einer Herzfrequenz um die 170S/min [8].

Abb. 4 Unfassbare Live Leistungsdaten von Yates am Colle delle Finestre [9]

Mit dem Edeljokerdomestiken van Aert hat Visma darüber hinaus die perfekte Relaisstation platziert gehabt, der natürlich auch erstmal in die Spitzengruppe des Tages und über den Finestre kommen musste, alleine das war schon eine Glanzleistung des Belgiers. Wie er dann in der Abfahrt vom Finestre und im Schlussanstieg nach Sestriere Yates zum Gesamtsieg gezogen hat, ist ziemlich einmalig in der Radsporthistorie. Kalkulationen zur Folge muss van Aert über 12 min Leistungen zwischen 450-500Watt abgerufen haben, um den im Windschatten folgenden Teamkapitän Yates regelrecht von der Konkurrenz wegzusaugen [10]. Aus 2min Vorsprung wurden so in Windeseile 5min, die total gefrusteten Mitstreiter kapitulierten in der Folge völlig demoralisiert. Mit versteinerten Mienen erreichten die geschlagenen del Toro und Carapaz die Zielankunft, wohl wissend das ihnen am vorletzten Tag der sicher geglaubte Gesamtsieg entrissen wurde [11]. Van Aert war übrigens von einer Virusinfektion geschwächt beim Giro angetreten, hat sich dann aber wie selbstverständlich unter dreiwöchiger Extrembelastungstherapie erholt [12], man sollte die entsprechenden Leitlinien bei einschlägigen Erkrankungen also durchaus überdenken (Ironie off).

Diese abnormale Regenerationsfähigkeit und scheinbare Ermüdungsresistenz des Pelotons ist ein hochsignifikantes Phänomen im modernen Profiradsport, welches einer kritischen Betrachtung bedarf. Nicht nur bei Eintagesrennen, auch in den Rundfahrten wird vom Start weg Vollgas gefahren („auf die Plätze, fertig, Koma“) und diese quasi einzige verbliebene Taktikvariante, sogar noch mit Peakintervallen bei Attacken auf dem ohnehin permanent maximalen Dauerleistungsniveau, wird ebenfalls gnadenlos über drei Wochen bei den Grand Tours durchgezogen. Zudem wird diese Fatigue Resistance durch hochintensive Trainingseinheiten gezielt optimiert, d.h. die Trainingsbelastung ist ebenfalls deutlich gestiegen im Gegensatz zu vergangenen Dekaden. Auch hierbei wird offensichtlich, welche enorme Auswirkung moderne Dopingmethoden auf die Regenerationsfähigkeit haben müssen. Einziger sichtbarer Indikator des resultierenden körperlichen Verschleißes ist die enorme Sturzhäufigkeit.

Abb. 5 Ermüdungsbalken Giro 2021 20. Etappe, je länger der Balken desto ermüdeter ist der Athlet [15]

Natürlich ist Erschöpfung bei allen Fahrern durch den metabolischen Leistungsumsatz unausweichlich, 2021 gab es beim Giro dazu eine hochinteressante Grafik, die kaum jemand bemerkt hat, die Einblendung dieser Datenauswertung ist übrigens nie wieder bei einer Radsportübertragung erfolgt. Im Etappenergebnis kommen dann auch tatsächlich die weniger ermüdeten Bernal, Martinez, Bardet und Almeida in der Spitzengruppe an, während Martin über 3min verliert [13]. Die Kalkulation erfolgte wahrscheinlich durch Auswertung der HRV (Herzratenvariabilität) über Velon [14].

Auf der Suche nach den Ingredienzien der Teamapotheken, welche wohl nach wie vor maßgeblich dazu beitragen die skizzierten modernen Leistungsprofile zu ermöglichen, wird man u.a. bei einem aktuellen Beitrag des altverdienten Kollegen Hajo Seppelt fündig [16]. In der Dokumentation werden die der Seppelt Redaktion zugespielten staatsanwaltlichen Unterlagen aus der „Operation Aderlass“ [17a] noch einmal vollständig neu aufgerollt. Die Brisanz der Inhalte ist noch weitaus größer als all die ohnehin schon bekannt gewordenen hochkriminellen Details um das dort aufgeflogene Sportmafia Netzwerk. Dass die sichergestellten Prozessbeweise und Indizien weder strafrechtlich verwertet (wegen der fünfjährigen Verjährungsfrist), noch sportrechtlich geahndet wurden (was bei 10jähriger Verjährungsfrist möglich gewesen wäre), wegen kompletter Untätigkeit seitens UCI und WADA, ist schon ein Skandal für sich. Es wirft ein bezeichnendes Licht auf den nach wie vor hochgradig sportkriminell agierenden Radsportzirkus, welcher u.a. weiterhin völlig ungeniert im Strafprozess namentlich genanntes und belastetes Personal beschäftigt [17b]. Zudem hat man wohl in einem Szene populären „Besenwagen“ Podcast Schnappatmung bekommen, als aus den Prozessakten Chatverläufen der Operation Aderlass mit dem „Zeug was Milram genommen hat…“ zitiert wird. Gemeint ist das ehemalige Profiradrennteam Milram und mit dem „Zeug“ wird es sich wohl nicht um den Joghurt des namensgebenden Hauptsponsors handeln. Da hätten einige Protagonisten die Gelegenheit gehabt als Whistleblower auszupacken, über die damaligen medizinischen Manipulationspraktiken und Wirkstoffapplikationen.

Um welches „Zeug“ es sich dabei gehandelt hat, wird in den weiteren Ermittlungen der Seppelt Reportage deutlich. Dabei geht es um die Substanz AICAR und deren Derivate [18]. Von den möglichen 166 verschiedenen Wirkstoffvarianten wird in der Routinedopinganalytik lediglich auf vier Präparate getestet, die auch nur in einem Zeitfenster von wenigen Stunden nachweisbar sind, der Rest kann quasi ohne das Risiko einer Detektion zur Leistungsmanipulation eingesetzt werden [19]. Ein diesbezüglich geführtes Interview [20] mit dem Leiter des Instituts für Biochemie (und Dopinganalytik) der DSHS Köln [21], Prof. Thevis, kommt einem Offenbarungseid des Kontrollsystems und einer Kapitulation vor der klandestinen Leistungsmedizin gleich. Wenn man sich das biochemische Potential von AICAR näher anschaut, dann wird plötzlich klar, wie dieser Stoffwechselaktivator zum Gamechanger im modernen Profiradsport geworden ist. Das metabolische Profil der Substanz wird in der nachfolgenden Illustration schematisch verdeutlicht.

Abb. 6 AICAR Metabolismus und Interaktionen [22]

Die wesentlichen biosynthetischen Wirkmechanismen und Signalkaskaden von AICAR sind AMPK (Adenosinmonophosphat aktivierte Proteinkinase) vermittelt. Besonders hervorzuheben ist die Stimulation der Lipolyse (Fettverbrennung) und die deutliche Erhöhung der Glucoseutilisation durch vermehrte Membranständigkeit der GLUT4 Transporter, eine indirekte antidiabetische Wirkung im Übrigen. Klingelt da etwas bei Letzterem? Wie war das noch mit den plötzlich schlagartig deutlich höheren Kohlenhydrataufnahmen der aktuellen Fahrergeneration, was damals angeblich nicht möglich gewesen sein soll? Früher wurde das mit Glucoseinfusionen (intravenös) versucht, damit konnten aber nicht die natürlich begrenzten Metabolisierungsraten in den Substratketten manipuliert werden.

Von Smirs1

Studium der Chemie u. Sportwissenschaft; 30 Jahre Berufserfahrung in der klinischen Forschung, Medizinproduktezulassung, Fitnessindustrie u. Betreuung von Weltklasseathleten; ehem. Diplomand am Institut f. Biochemie u. Dopinganlytik d. DSHS Köln; investigativer Journalist in Mainstream u. alternativen Medien mit zahlreichen fachspezifischen Publikationen; passionierter Radsportler, seit 40 Jahren im Rennsattel unterwegs; Erfinder und Patentinhaber

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