Die Klassikersaison 2023, eine kritische Analyse am Beispiel von Paris Roubaix

Wie der Niedergang von Sportethik und Gesellschaftsmoral zelebriert wird

Die Hölle des Nordens, so lautet der Titel des Kopfsteinpflasteranachronismus über 255km mit 29 Pavé (Kopfsteinpflaster) Sektoren von insgesamt 54,5km Länge [1]. Die Tortur für Mensch und Material, auf den groben denkmalgeschützten Pflasterprofilen aus der Epoche Napoleons, sind der Namensgeber für dieses Radsportmonument mit seinem einmaligen Streckencharakter. Seine höllische Fratze hat die diesjährige 120. Austragung im besonderen Maße auf dem letzten extremen fünf Sterne Pavé Sektor (Carrefour de l’Arbre), im Sturzdrama um den deutschen Kapitän John Degenkolb vom Team DSM gezeigt. Jede Attacke in diesem Rennabschnitt kann die Vorentscheidung zum Sieg bedeuten, dies ist allen taktisch geschulten Protagonisten der Spitzengruppe gegenwärtig, als sie auf diesen Sektor einfahren. Degenkolb wollte mit all seiner Erfahrung, er hatte das Rennen bereits 2015 gewonnen, die Besonderheiten des Terrains zu einem geschickten Manöver nutzen, um sich einen Vorteil gegenüber den Favoriten zu verschaffen, deren jugendlicher Spritzigkeit für intervallartige Attacken er nur seine permanente Tempohärte entgegensetzen konnte. In den folgenden Bildsequenzen (Abb. 1 – 4) aus den Originalaufzeichnungen des Rennverlaufes wird deutlich, wie sich dann ein unsportliches Drama in 4 Akten vollzog, dessen Opfer der Deutsche wurde.

Um seinen Angriff vorzubereiten bzw. die Attacken seiner Konkurrenten zu unterbinden, zieht Degenkolb im ersten Teil des Sektors auf den rechten Randstreifen neben dem Pavé raus. Dort lässt es sich bei den trockenen Bedingungen etwas leichter und schneller fahren als auf der mittigen Rüttelpiste, zudem kann man von dieser Position die Spitzengruppe besser kontrollieren und evt. Antritte der Konkurrenz von hinten schneller kontern. Der unmittelbar hinter ihm fahrende Topfavorit Matthieu van der Poel erkennt natürlich sofort die Gefahr für seine eigenen Siegambitionen und entschließt sich das Vorhaben von Degenkolb schnellstmöglich zu beenden, u.a. mit tätiger Unterstützung seines Edeldomestiken Philipsen aus derselben Mannschaft (Alpecin-Deceuninck), welcher in der Führung seinem Kapitän den entscheidenden Windschattenvorteil bietet. Leider bedient sich van der Poel bei seinem „Neutralisationsversuch“ den Mitteln einer groben Unsportlichkeit, wie die nachfolgende Detailanalyse belegt. Für die Bewertung der Rennsituation ist v.a. auch die Kenntnis der Windrichtung von entscheidender Bedeutung. Auf den Bildern in der Eurosport Sequenz [2] erkennt man bei 00min:10sec (Doppelfahne unten links) und 00min:14sec (französische Nationalflagge auf dem Feld links) die wehenden Fahnen im Wind. Diese markieren die Windrichtung eindeutig in Fahrtrichtung von links aus Sicht der Rennfahrer. Die nachfolgenden Bildkommentare schildern die Entstehung der Sturzprovokation in den entscheidenden vier Sequenzen.

Abb. 1 Die roten Kreise markieren die Fahnen im Wind, die roten Pfeile die resultierende Windrichtung zu den Rennfahrern. Degenkolb schert auf den Randstreifen aus, der Rest der Gruppe hält die Fahrlinie. Fahrlinien Philipsen, van der Poel, Degenkolb. [2]

Von Smirs1

Studium der Chemie u. Sportwissenschaft; 30 Jahre Berufserfahrung in der klinischen Forschung, Medizinproduktezulassung, Fitnessindustrie u. Betreuung von Weltklasseathleten; ehem. Diplomand am Institut f. Biochemie u. Dopinganlytik d. DSHS Köln; investigativer Journalist in Mainstream u. alternativen Medien mit zahlreichen fachspezifischen Publikationen; passionierter Radsportler, seit 40 Jahren im Rennsattel unterwegs; Erfinder und Patentinhaber

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