Wenn man viele Jahrzehnte als Insider im Profiradsport unterwegs ist, denkt man oft schon alles gesehen zu haben, nur um jedes Jahr eines Besseren belehrt zu werden. Das Innovationspotential im modernen Hochleistungssport erinnert an die enormen technologischen Entwicklungssprünge in gesellschaftlichen Ausnahmesituationen kriegerischer Episoden, welche offensichtlich einen Katalysator für den menschlichen Erfindergeist darstellen. Und was sich inzwischen im und um das Peloton abspielt, ist leider in zunehmendem Maße zu einem Krieg auf der Landstraße entartet. Ein Teilbereich dessen ist die Materialschlacht der Teamausstatter, die man bspw. beim Zeitfahren auf der 2. Etappe beobachten konnte. Und es sind, wie so oft, die kleinen Details die einen Indikator zur vorgenannten Hypothese liefern, übrigens mal wieder kollektiv unbemerkt von den zahlreichen Konformismuskommentatoren und ihren assistierenden Opportunismusexperten. Zugegeben, man muss schon sehr genau hinschauen, aber dafür wird diese Journalismuskaste schließlich fürstlich entlohnt.
In der Liveübertragung des Einzelzeitfahrens ist immerhin dem Kameramann des Begleitmotorrades, die technische Besonderheit an dem Highspeeboliden des Polti-Kometa Profis Mirco Maestri aufgefallen. Eine aerodynamische Abdeckung über dem Schaltwerkkäfig, welche selbst bei den renommierten Top Teams, mit ihren exorbitanten Budgets und Personalressourcen, nirgends zu entdecken gewesen ist.

Bei dem Objekt handelt es sich um ein Accessoire der dänischen Hightechschmiede „Ceramicspeed“, das für die Kleinigkeit von 679€ auch für den Hobbytuner verfügbar ist [1]. Bereits auf der Eurobike 2018 stellte die Firma ein revolutionäres Antriebskonzept vor, das es noch nicht zur Marktakzeptanz gebracht hat, dessen aerodynamische und mechanische Kennwerte allerdings neue Dimensionen erreichen [2].
In ebensolche neuen Sphären haben sich die Wattmonster im Rennsattel auch bei der diesjährigen Giro Ausgabe begeben. Besonders bemerkenswert dabei der Auftritt des neuen Shootingstars, dem Mexikaner Isaac del Toro, vom Pogacar Team UAE. Szenekennern war dieser velophile Rohdiamant schon bei der bedeutendsten Nachwuchsrennklassenrundfahrt, der Tour de l´Avenir 2023, aufgefallen. Dort brachte er das seltene Kunststück fertig, sämtliche Wertungstrikots zu gewinnen. Auch in Sachen Beweglichkeit, ein immer noch von vielen Radsportprotagonisten unterschätzter und ungeliebter Trainingsinhalt, liefert der Jungstar eine artistische Performance bei diversen Zielankunftsposen ab. Hoffentlich eine Werbung für Stretching und Functional Trainingseinheiten, die bei Nachwuchsathleten und deren betreuende Trainerstäbe registriert wird.

Bei der Leistungsanalyse wird man auf der 17. Etappe hellhörig, wenn ein durch schwere Sturzverletzungen gehandicapter Tiberi (Team Bahrain) zum Besten gibt, dass er am Mortirolo nur noch in der Lage war, 350 Watt zu treten [4]. Gemeint ist natürlich die Dauerleistung, nicht das was sie werte Leser kurzfristig auf dem Ergometer treten können bevor sie von demselben fallen. Was also müssen die unlädierten Topstars der Szene erst auf die Kurbel latschen? Dies erfährt man bspw. von brillanten Szenebeobachtern mit einschlägiger Expertise, welche interne Kenndaten von Wout van Aert während der 16. Etappe präsentieren. Dieses Kraftpacket ist mit sage und schreibe 510Watt über 10min auf einem Etappenabschnitt geballert, wohlgemerkt in der 3. Woche dieser extrem harten Kumulativbelastungen [5].

Noch skurriler wird es wenn man sich die Durchschnittsleistungen der GC Favoriten am mördersteilen Mortirolopass anschaut, welcher über 12,6km 7,6% Steigung aufweist, mit ekeligen Rampen von bis zu 16%. Zu berücksichtigen ist auch hier, die Kombattanten befinden sich in der dritten Rennwoche und haben auf dieser Etappe bereits den Passo del Tonale und 100 Rennkilometer in den Beinen. Wie man der kurzen Einblendung während der Liveübertragung entnehmen kann, kurbeln die Topstars mit konstanten 400Watt den Dolomitenhammer hinauf. Bei den kolportierten Auffahrtzeiten um die 35min, bedeutet dies ein Durchschnittstempo von 21,5km/h! Damit ist man übrigens nochmal knapp 5min schneller als die bisherigen Rekordzeiten aus der berüchtigten EPOche des Radsports. Aber da hat es ja noch keinen Klimawandel gegeben, der mit warmer Thermik die Aspiranten schneller bergauf trägt.